Leseprobe


金曜日 (Geldtag)

 

 

Die Krähe

 
‚Krähe, wunderliches Tier, willst mich nicht verlassen?
 Meinst wohl, bald als Beute hier meinen Leib zu fassen?‘


Seit einiger Zeit hatte sich ein kleiner Schatten über das Vorstadtparadies gelegt. Nicht für alle Anwohner war das gleich schlimm, es kam darauf an wo genau man sich üblicherweise aufhielt und wieviel Zeit man dort verbrachte. Doch es gab kaum einen, der die unkontrollierte Vermehrung der Krähen, die beinahe schon zur Plage geworden waren, nicht bemerkt hätte. Riesige Vögel waren das teilweise, die immer mehr den Respekt vor den Menschen zu verlieren schienen und kaum noch zu verjagen waren. Ihr grässliches Krächzen war weithin zu vernehmen und verbreitete eine unheimliche Stimmung, als habe sich ein Fluch über dem Ort ausgebreitet. Obwohl das nicht stimmen konnte, kam es einem so vor, als gäbe es kaum noch andere Vogelarten, so dominant war die Präsenz der Krähen letzthin geworden. Lediglich eine einzige weitere Gattung kleinerer Vögel war gelegentlich zu hören. Deren Namen wusste keiner so recht, doch auch diese gaben ein penetrantes Geräusch von sich, einen hohen, heiseren langanhaltenden Schrei, der sich anhörte, als käme er aus der entzündeten Kehle einer gefolterten Sopranistin. Das düstere Duett dieser beiden Gattungen war auf die Dauer zermürbend und die Ruhe, die ansonsten hier herrschte und die man zuvor immer als gemütlich und angenehm empfunden hatte, nahm man nun als Grabesstille wahr, die beständig von den düsteren Mahnrufen der großen schwarzen Todesboten und dem schrillen Gefiepe ihrer kleinen Schwestern durchbrochen wurde.
An manchen Tagen fand man Straßen des mondänen Örtchens nun mit Unrat übersäht. Der Überfluss der Menschen bot auch anderen Spezies einen exotischen Speiseplan. Die klugen Krähen umgingen jegliche Bemühungen, die Müllsäcke mit verschiedenen Vorrichtungen zu schützen und die Katzen halfen dabei, die freigelegten Schätze weitläufig zu verteilen. Obwohl der Hausmüll dreimal die Woche an den zahlreichen Sammelstellen abgeholt wurde, stanken die aufgerissenen Beutel an heißen Tagen schnell. Das stellte ein zusätzliches Ärgernis dar, gerade hier, wo auf Ordnung und Sauberkeit noch mehr Wert gelegt wurde, als anderswo in diesem für solche Tugenden ohnehin berühmten Land.
Gegenmaßnahmen, wie das Aufstellen von Krähenfallen in den Parks, blieben von allenfalls mäßigem Erfolg. Die Krähen fühlten sich hier wohl und merkten recht wenig davon, dass sie eigentlich unerwünscht waren. Sie hielten die Menschen für größtenteils harmlos und, von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen, betrachteten sie sie ihrerseits als wenig störend. Begrünte Siedlungen wie田園調布三丁目(Denenchofusanchome) waren für Mensch wie allerlei Kulturfolger aus der Tierwelt gleichermaßen ein luxuriöser Wohnort. Es gab zahlreiche Bäume zum sicheren Aufenthalt, gemähte Grasflächen zur leichten Beutesuche, menschliche Speisereste zur abwechslungsreichen Ernährung in allen Jahreszeiten, menschliche Gegenstände, wie zum Beispiel Kleiderbügel von der Reinigung, als perfektes Material zum Nestbau. Es war auch noch recht ruhig, mit wenig Straßenlärm, sodass man sich angenehm über weite Strecken mit den anderen Krähen unterhalten konnte. 
So stellte sich die ornithologische Situation in ihren Grundzügen dar. Selbstverständlich gab es Ausnahmen: immer wieder, wenn auch selten, flog aus den benachbarten Bezirken eine bei den Menschen höchstgeschätzte Vogelart ein. Vor einigen Jahrzehnten hatte sich nämlich aus ausgesetzten, oder entflogenen Haustieren, eine kleine wilde Population freilebender großer, grüner Sittiche entwickelt. In Schwärmen von 10 bis zu 100 Tieren durchkämmten sie als völlige Exoten die Wards Setagaya, Ota und teilweise auch Tokyo. Die Vögel lebten in den Bäumen der Parks, Gärten und Alleen und hatten sich auf unerklärliche Weise an den kalten Winter adaptiert. Wer sie zum ersten Mal zu sehen bekam, der traute seinen Augen nicht und fühlte sich durch die Schönheit des Ungewöhnlichen, die von ihnen ausging, in eine andere Welt versetzt. Man wünschte sich, diese hübschen farbigen Geschöpfe würden sich vermehren und nicht ihre garstigen schwarzen Verwandten, doch leider setzte sich die gegenteilige Entwicklung unerbittlich fort.
良子(Ryoko) kam freitagmorgens aus dem Haus und der Weg zur Straße war von gleich drei monströsen Vögeln versperrt. Konnten das wirklich Krähen sein, dachte sie, oder musste es sich hier nicht doch um Raben handeln? ‚Einer für jeden von uns‘, schoss es ihr ohne ersichtlichen Grund durch den Kopf und sie musste spontan an ihre Tochter und ihren Mann denken, wobei sie ein großes Unbehagen überkam. Irritiert und etwas beängstigt stand sie kurz da und sann über die Bedeutung ihrer merkwürdigen Assoziation nach. Dann schüttelte sie diese Gedanken aber schnell wieder ab und überlegte, wie sie die Tiere verjagen konnte. Jene hatten es geschafft, eine der hellblauen Plastikmülltonnen umzuwerfen, worauf sich der Deckel gelöst hatte, und die Tüten herausgefallen und dann gewalttätig zerfetzt worden waren. Es roch streng und der ganze Eingang war bis zur Straße hin verdreckt. Wütend schwang sie ihre Handtasche in Richtung der Tiere. Diese reagierten mit aggressivem Krähen und Flügelschlägen, machten aber keine Anstalten, sich zu entfernen. Erst als sie mit einem Rechen, den sie schließlich aus dem Garten geholt hatte, nach ihnen stocherte, verabschiedeten sie sich endlich, mürrisch und ohne Eile, sie würden wiederkommen. Vielleicht in einem großen Schwarm, wie bei Hitchcock, und die Menschen ein für alle Mal von hier vertreiben.
Im gleichen Augenblick erschien wie aus heiterem Himmel ein einzelner grüner Sittich vor dem Haus, er umkreiste es einmal neugierig und setzte sich dann selbstbewusst mitten auf den Dachgiebel, als nähme er das gesamte Gebäude samt Garten in seine Obhut. Er war hellgrün wie eine saftige junge Pflanze, hatte einen dunkelroten Schnabel und gelbe Augen. Eine ganze Weile beobachtete Ryoko nachdenklich den seltenen Gast, der es sich gemütlich gemacht hatte, augenscheinlich mit der Absicht längere Zeit hierzubleiben. Staunend über dieses morgendliche Vogelschauspiel fragte sie sich, was es wohl zu bedeuten habe.



 

Einsamkeit

 
‚Wie eine trübe Wolke durch helle Lüfte geht, so zieh ich meine Straße dahin mit trägem Fuß, durch helles frohes Leben, einsam und ohne Gruß.‘
 
ギターを引くの人(der Gitarrenspieler) saß zur gleichen Zeit benommen auf einer Treppenstufe, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Stirn in Händen. Ihm war, als hätte man ihm auf den Kopf geschlagen. Dabei war nichts Besonderes vorgefallen, oder etwa doch? Er konnte sich nicht erinnern. Wo war er überhaupt und wie war er hier hergekommen? Er dachte angestrengt nach. Doch je mehr er nachdachte, desto orientierungsloser fühlte er sich. Was hatte er heute Morgen gemacht? Was gestern? Panik ergriff ihn. Er schloss die Augen. Keine Aufregung. Ein Schwächeanfall, eine Unterzuckerung vielleicht. Er musste sich nur beruhigen, es war sicher gleich wieder vorbei. Tief und langsam einatmen… tief und langsam ausatmen. Unzählige Male wiederholte er diese Übung. Minuten vergingen. So sehr er sich anstrengte, sein Geist blieb blank. Er wusste einfach nichts mehr, wo er wohnte, wen er kannte, wer seine Freunde und Familie waren, nicht einmal an seinen eigenen Namen! Sein Blick fiel auf die Gitarre, die ohne Koffer neben ihm auf der Treppe lag. Einen kurzen Moment lang kam Erleichterung in ihm auf. Seine Gitarre war da, sicher war er auf dem Weg zu einem Gig und hatte in der Hitze einen Schwächeanfall erlitten, gleich würde es ihm wieder dämmern. Deshalb trug er wohl auch seinen Anzug, sein Live-Outfit. Doch es dämmerte nichts. Er begann, wild seine Taschen nach Gegenständen als Erinnerungsstütze zu untersuchen. Beklemmenderweise befand sich rein Garnichts in den Hosen- noch in den Jackentaschen. Er atmete schwer, nahm die Gitarre und begann hilflos durch die Gegend zu laufen. Wo war er? Da war ein Flohmarkt zwischen großen modernen Gebäuden mit Glasfassaden, irgendwo las er ‚Tokyo International Forum‘, er war auf einem Antikmarkt am Tokyo International Forum. Er beruhigte sich ein wenig, immerhin wusste er nun, wo er war, bald würde ihm auch noch der Rest einfallen. Er nahm die Gitarre und fing an ziellos zwischen den Ständen umherzulaufen. Er kannte sich in Tokyo nicht aus, soviel war klar. Buntgemischte, für so eine Veranstaltung typische Gegenstände, zogen in nicht-enden-wollender Vielfalt an ihm vorüber: Töpfereien, Buddha Statuen, Wandbehänge, Kimonos, Schmuck, Gemälde. Die Inhaber saßen gelangweilt vor sich hin stierend zwischen ihren Waren. Angeregt und sorglos nahmen die Kunden, meist Frauen, ein Stück nach dem anderen in die Hand und betrachteten es träumerisch, es hatte aufgehört zu regnen, man hatte es nicht eilig. Niemand bemerkte den Gitarrenspieler, der unglücklich und geistesabwesend vor sich hinmurmelnd langsam durch die Gänge trottete. Wie konnte so etwas vorkommen und, vor allem, warum musste ausgerecht ihm so etwas passieren? Was sollte er denn jetzt tun, irgendeine wildfremde Person um Hilfe bitten? Nachdem er so eine gefühlte Ewigkeit lang ratlos und einsam auf dem Antiquitätenmarkt seine Kreise gezogen und sich keinerlei Gedächtnis bei ihm eingestellt hatte, folgte er den Menschenströmen zu einer Bahnstation, der JR Yurakutcho Station, wie er dem Schild entnehmen konnte. Beinahe hätte er sich durch die Schranke und auf den Bahnsteig treiben lassen, als ihm einfiel, dass er ja weder eine Fahrkarte, noch Geld hatte und außerdem nicht die leiseste Ahnung, wo er überhaupt hinfahren sollte. Er ging also stattdessen am JR Eingang vorbei unter den Gleisen durch eine Unterführung und stand auf der anderen Seite unversehens vor dem örtlichen Koban, der Polizeistation. Sollte er sich hier melden? Was sollte er sagen: `Hallo, ich weiß nicht wer ich bin, helfen Sie mir! `. Er musste bei diesem Gedanken kurz innerlich schmunzeln, verfiel aber umgehend wieder in hilflose Trübsal. Da ein Polizist, der im Eingang des Koban stand, ihn bereits zu mustern begann, lief er unauffällig weiter. Niemand will vor der Polizei auffallen. 
So irrte er noch eine ganze Weile hin- und her, bevor er sich endlich klarmachte, dass in diesem Fall nichts an der Polizei vorbeiführte. Er fand seinen Weg zurück zur Station und raffte sich auf einzutreten. Drei Polizisten waren zu sehen, die, wie für Polizisten in diesem Land üblich, nichts zu tun zu haben schienen. Es fühlte sich eher wie ein altes Postamt an, mit zwei Schaltern, ein paar Aktenschränken, vergilbten Aushängen und so weiter. Alle grüßten höflich und etwas streng und der Jüngste der drei fragte, wie er behilflich sein könne. Der Gitarrenspieler begann vorsichtig damit, seine Geschichte zu erzählen, wie er benommen auf der Treppe zu sich gekommen war, als habe man ihm auf den Kopf geschlagen, und nun wohl sein Gedächtnis verloren habe. Er hatte das volle Interesse der Polizisten geweckt, die nun alle eng um ihn herumstanden, und ihn anstarrten. Man bat den Gitarrenspieler, sich doch erst einmal zu setzen und brachte ihm eine Plastikflasche mit Wasser. Einer fragte, ob er Kopfschmerzen habe und fing an, seinen Kopf nach einer Platzwunde abzutasten, allerdings ohne Ergebnis. Routinemäßig wollte der jüngste Polizist nun vorsichtig mit der Aufnahme der Personalien beginnen, worauf der Gitarrenspieler, diesmal etwas verärgert, noch einmal die Problematik seines Zustandes zum Ausdruck brachte. Als auch die Frage nach den Papieren verneint wurde, und ein erneutes Untersuchen aller Hosen-, Hemd und Jackentaschen, sowie der Gitarre gleichsam erfolglos blieb, begann sich nun auf Seiten der Polizisten eine gewisse Rat- und Hilflosigkeit einzustellen. Es schien sich hier um ein Raubdelikt zu handeln, doch was sollte man ohne jeglichen Hinweis unternehmen? Sie zogen sich zur Beratung zurück und flüsterten aufgeregt untereinander. Nach einer Weile kam diesmal der älteste Polizist auf ihn zu und erklärte, man würde ihn nun zur Untersuchung in ein Krankenhaus bringen und das Protokoll zu einem späteren Zeitpunkt genauer aufnehmen. Als der Gitarrenspieler anmerkte, ihm fehle eigentlich nichts, antwortete der Polizist streng, das könne man nicht wissen und es sei ja schließlich sehr bedenklich, seine Erinnerung zu verlieren. Das war natürlich einleuchtend, außerdem machten die Beamten nun bemüht freundlich, aber doch unmissverständlich klar, dass sie die Verantwortlichkeit für diesen komplizierten Fall nun an eine andere Autorität abzugeben gedachten.
Er wurde, auf einem uralten Plastikstuhl mit Metallfüssen sitzend, sich selbst überlassen. Einerseits fühlte er sich zumindest irgendwie aufgehoben, andererseits hatte er den Eindruck gerade institutionalisiert zu werden, vielleicht würden sie ihn einsperren. Eine gewisse Beklemmung überkam ihn und er blickte instinktiv zuerst zur Tür und dann zu den Beamten, sein Sympathikus war aktiviert und auf Flucht geschaltet. Einer von ihnen hatte den Gitarrenspieler aus jahrelanger Berufserfahrung im Blickwinkel behalten und er schaute ihm nun mit der vollen Macht seiner Amtsgewalt streng und tief in die Augen. Sein Blick sagte klar und deutlich so etwas wie: ‚Denk nicht mal daran, Freundchen‘. 
Nach einer kurzen, aber heftigen Panikattacke, ausgelöst von der stummen Drohung seines Wächters, fügte sich der Gitarrenspieler in sein Los, was sonst hätte er jetzt noch tun können? Eine halbe Stunde später fuhr ein Krankenwagen vor und er musste sich darin auf eine Liege legen und wurde dort zunächst untersucht. Es war bemerkenswert, wie der Trubel der Straße sogleich vergessen war, als die hintere Wagentür zufiel, man war in Sicherheit, umgeben von Profis und High-Tech Geräten. Ein weiß gekleideter Mann, Sanitäter wahrscheinlich, oder Notarzt, fühlte den Puls und nahm den Blutdruck. Er redete dabei ständig beruhigend auf ihn ein, tat dies allerdings auf sehr beiläufige und routinierte Weise und hörte auch nicht zu, wenn sein Patient eine Antwort gab oder selbst eine Frage stellte. Genervt schaltete jener daher bald ab und ließ teilnahmslos alles über sich ergehen, so oder so hatte der Helfer sein Ziel erreicht. Der Patient wurde festgeschnallt und der Wagen fuhr los. Die Liege war bequem, er war fast kuschelig zugedeckt und die Gurte störten wenig. Der Wagen schaukelte angenehm. Insgeheim hoffte er, die Fahrt würde möglichst lange dauern. Der Adrenalinspiegel senkte sich zusehends und machte einer Art angenehmer Erschöpfung Platz. Er entspannte sich und schlief bald darauf ein.
Als er wieder erwachte, fuhr der Wagen noch immer. Er erschrak zuerst, bis ihm die Ereignisse der vergangenen Stunden wieder eingefallen waren. Dann fing er an sich zu überlegen, wie dies alles weitergehen sollte. Wenn sein Gedächtnis nicht bald zurückkam, wo sollte er dann hin, wo sollte er überhaupt schlafen? Er hatte das eine oder andere Mal schon über solche Fälle in der Zeitung gelesen, von Leuten, die man irgendwo mit Verlust des Langzeitgedächtnisses, das musste es wohl auch bei ihm sein, aufgefunden hatte. Normalerweise kam dann nach ein paar Tagen die Meldung, die Person sei identifiziert worden. Aber was passierte in der Zwischenzeit? Vermutlich würde er ein Zimmer im Krankenhaus bekommen, oder in einer Psychiatrischen Klinik? Er hatte ja kein Geld, in ein Hotel zu gehen… Es gab aber auch Fälle, wo vermisste Menschen erst nach Jahrzehnten wieder irgendwo auftauchten und man konnte kaum glauben, wie so etwas möglich war. Da durch den kurzen Schlaf die Stresshormone weiter abgebaut waren und sein Schockzustand sich etwas gegeben hatte, kam nun schlagartig die ganze katastrophale Tragweite seiner Situation bei ihm an. Bisher war er ja noch völlig ruhig geblieben, doch nun brach es aus ihm heraus, er fing an zu schreien und um sich zu schlagen, versuchte die Gurte zu entfernen und warf sich hin und her. Sofort war der Sanitäter zur Stelle und hielt ihn fest. Der Wagen hielt an und auch der Fahrer kam nach hinten. Während der Sanitäter ihn weiter festhielt, drückte ihm jener einen durchsichtigen Trichter ins Gesicht, Sekunden später sank der Gitarrenspieler in Ohnmacht.
 

 

Gefrorne Tränen 

 
‚Gefrorne Tropfen fallen von meinen Wangen ab: Ob es mir denn entgangen, daß ich geweinet hab' ? Ei Tränen, meine Tränen, und seid ihr gar so lau, daß ihr erstarrt zu Eise wie kühler Morgentau ?‘

冬(Fuyu) hatte kurz vor ihrer Mutter das Haus verlassen und stand nun in Denenchofu am Bahnsteig. Da sie zu spät aufgestanden war, musste sie mit dem 7:56 h Kyuko, dem überfüllten Expresszug der Mita Line nach Kasuga Station fahren und von dort entweder zu Fuß bis zum Kampus der Tokyo University laufen oder in die Oedo Line umsteigen, um zur ihrem Ziel nähergelegenen Hongosanchome Station zu gelangen. Das Stationspersonal stand Gewehr bei Fuß, in der Tür eingeklemmte Passagiere bereitwillig mit weißen Stoffhandschuhen vollends in die bereits zum Bersten gefüllten Waggons hineinzustopfen - diese einzigartige Tokyoter Vorgehensweise hatte bekanntlich bereits Weltruhm erlangt. Unausweichlich wurden so wahllos die Körper gleich- oder andersgeschlechtlicher Passagiere in unterschiedlichsten Konstellationen aneinandergepresst, manche männliche Fahrgäste nutzten diese Situation zu unanständigen Übergriffen aus. Auf manchen besonders hoch frequentierten Strecken waren daher einige Wagons morgens bis 9 Uhr ausschließlich für Frauen reserviert, leider aber nicht auf der Mita Line. Deshalb war für Fuyu in diesem Zug eine ausgeklügelte Strategie erforderlich, um schlimmeres zu vermeiden. Sie stieg immer entweder in den Wagen 4 oder in den Wagen 8 ein. Diese waren am weitesten von den Treppen entfernt, weswegen dort am wenigsten Leute warteten. Es galt, mit allen Mitteln aus dem Eingangsbereich des Wagons in den Gang zwischen den Sitzreihen zu kommen. Die Züge der Tokyo Metro hatten normalerweise 8, 10 oder 12 Wagen. Ein Tokyo Metro Wagon von Kawasaki Heavy Industries oder Hitachi hatte 8 Türen, 4 auf jeder Seite. Es gab also in jedem Wagon 4 Einstiegsbereiche zwischen der jeweiligen rechten und linken Tür. In diesen ca. 3,5 x 2,5 Meter großen Bereichen waren zur Stoßzeit jeweils bis zu 50 Menschen zusammengepresst, man sagte, es sei durch den Druck schon zu Rippenbrüchen gekommen. Gelang es nicht, in den Gangbereich vorzudringen, wurde man an jedem Halt mit den aussteigenden Passagieren gewissermaßen herausgespült, mal zur linken, mal zur rechten Seite, um sich dann aufs neue mit den Einsteigenden wieder hineinfluten zu lassen. Schaffte man es, sich seitlich zu platzieren und festzuhalten, sodass der Strom der Aussteigenden an einem vorüberquoll, dann konnte man sich mit der Dynamik der Wiedereinsteigenden tiefer in den Gangbereich drücken lassen. Je mehr man in den mittleren Gangbereich vordrang, desto geringer wurde der Druck der Masse. Selbstredend gab es allerdings insbesondere unter den Frauen, einen erheblichen Konkurrenzkampf um diese strategischen Plätze, die so Manche ihre gute Kinderstube vergessen ließ. Im Gang gab es implizite Regeln, die, mit Ausnahme gelegentlicher uneingeweihter Touristen, von allen Passagieren streng eingehalten wurden. An den Wagonwänden gab es zwischen den Türen jeweils 7 Sitzplätze, man saß mit dem Rücken zum Fenster. Am Rand waren die Sitzreihen jeweils durch ein Brett vom Eingangsbereich getrennt. Vor jedem Sitzenden stand genau eine Person. Die Gepäckablage über dem Sitz war für diese, und nur für diese Person vorgesehen. Wurde der Sitz frei, war er für die davor stehende Person bestimmt, vor dem Hinsetzen nahm diese etwaige Akten oder Handtaschen von der Ablage und platzierte sie nach dem Hinsetzen auf dem Schoss oder auf dem Boden zwischen den Beinen. Zwischen den auf beiden Seiten stehenden Gepäckablage Inhabern, gab es noch Platz für eine weitere seitlich stehende Personenreihe.
Aus dieser Konstellation ergab sich bei fast jeder längeren Bahnfahrt eine Art Karriereleiter, eine Laufbahn, bei der es jedes Mal ungewiss war, wie weit man kommen würde. `Ganz unten` war man wie gesagt im zentralen Eingangsbereich, ein hilfloser Spielball im Tsunami der Menschenmassen. Ehrgeizlinge kämpften um Plätze am Rand der Gänge, um in einem zweiten Schritt einen sicheren mittleren Gangplatz zu erreichen. Bis dahin waren Ellenbogen gefragt gewesen, von nun an kam es gewissermaßen nur noch auf das glückliche Freiwerden einer höheren Position an, auf die man dann automatisch nachrücken konnte, ein seltsames Spiegelbild der traditionellen japanischen Berufswelt. Im Gang angekommen, hatte man es sozusagen `geschafft`. Über den Aufstieg zur Gepäckablage war Fuyu ebenfalls immer sehr dankbar, denn nun hatte sie eine Hand für das Handy frei und konnte sich mit der anderen festhalten. Erstaunlicherweise konnte man tatsächlich irgendwann mit einem Sitzplatz rechnen, da sich der Zug ab Meguro sukzessive Station für Station leerte und immer weniger neue Passagiere zustiegen. So richtig brutal war es meist nur zwischen Musashi-Koyama und Meguro. Es herrschte unausgesprochen, aber einvernehmlich die Meinung, dass die Randsitzplätze, neben dem Raumteiler zum Eingangsbereich, die höchste Karrierestufe darstellte. Diese Plätze waren selbst in relativ leeren Zügen nie unbesetzt und bereits Sitzende setzten sich schnell dorthin um, falls kein anderer sich rührte. Wie auf einem Thron konnte man hier unbehelligt vom Gestöber des gemeinen Volkes seinen täglichen Commute beenden.
Es war ein Frühlingstag, doch es war schon recht warm und es regnete in einem fort. Der andauernde Nieselregen ließ die Luftfeuchtigkeit ansteigen. Wenn es regnete, kam es vor allem anfangs der Woche immer zu Verspätungen, woran das lag konnte Fuyu sich nicht so richtig erklären. Fuhren die Züge auf nassen Gleisen langsamer? Trotz Klimaanlage heizten die über 300 Menschen von innen die Wagons auf und trugen mit ihren Schuhen und Regenschirmen immer mehr Feuchtigkeit hinein, sodass es sich wie ein Dampfbad anfühlte, und die Scheiben waren so beschlagen, dass man nicht mehr hindurchsehen konnte.
An diesem Tag blieb Fuyu ganz unten auf der Karriereleiter. Bereits in Denenchofu war der Zug voll, sodass sie rückwärts einsteigen und einige im Türbereich stehenden uniformierte Schüler weiter ins Zuginnere drücken musste, damit sich die Tür vor ihr schließen konnte. In Ookayama stiegen auf der gegenüberliegenden Seite nochmals ca. 10 bis 15 Menschen zu, wodurch sie von der wabernden Menschenmasse gegen die Tür gequetscht wurde. Es war warm und schwül und ihre Haare klebten an der nassen Scheibe. Zu allem Elend hatte sich der vorherige Zug wohl verspätet, weshalb der nachfolgende auf halber Strecke warten musste. Niemand sprach. Alle 10 Sekunden wehte ein kühler Luftzug über die Köpfe hinweg, da der Luftstrahl der Klimaanlage langsam hin- und hergeführt wurde. Die Wagons waren nur `mäßig` gekühlt, wie auf einem Schild zu lesen war. Seit der Katastrophe von Fukushima war der Strom knapp und teuer. Abgesehen von der Klimaanlage war es nun völlig still. Niemand sprach, manche schafften es irgendwie trotz des Gedränges auf ihr Handy zu starren, die Mehrheit war in einen ergebenen Dämmerzustand verfallen, von Minute zu Minute stieg die Sehnsucht nach der Weiterfahrt. Fuyu hatte schon vor dem Einsteigen ihren Kopfhörer aufgesetzt und ließ nun ihre Playlist ‚Winterreise‘ von Schubert laufen. Die abgehackte Klavierbegleitung des Liedes ‚Gefrorne Tränen‘ hallte laut in ihren Ohren und schuf unmittelbar eine surreale, nahezu gespenstische Atmosphäre. Der Sänger klagte, dass ihm unbemerkt Tränen aus den Augen gelaufen waren, die vor Kälte im Fallen zu Eis erstarrten. Der Gedanke an Kälte war wohltuend und als der nächste Stoß der Klimaanlage über sie hinwegwehte war ihr kurz, als fröstelte es sie ein wenig. Fuyu musste an die Filmszene denken, als die Dementoren auf der Suche nach Harry Potter den Hogwarts Express zu Eis erstarren ließen. Der Gesang wurde zunächst immer tiefer und düsterer und sie fühlte sich hier tief unter der Erde eingeklemmt zwischen Körpern wie in einem riesigen, eisernen Sarg. Doch dann hellte sich die Musik unerwartet in ein hoffnungsvolles Dur auf und der Text sprach,  die Tränen wollten das Eis des Winters zerschmelzen.
Mit einem jähen Rück ging die Fahrt endlich weiter. Fuyus Kleidung war inzwischen vollständig nassgeschwitzt. Schließlich kamen sie in Musashikoyama an, wo Fuyu, da sich die Türe hier wieder auf der linken Seite öffnete, als erste vom Menschentsunami nach außen gespült wurde. Die meisten Ausgestiegenen liefen nicht zum Ausgang des Bahnhofs, sondern bildeten um die Zugtür eine Traube, um gleich wieder in die schwülheiße Hölle zurückzukehren. Gemeinsam mit den 10-20 zusätzlichen Passagieren, die bisher artig angestanden hatten, aber nun, da es sich abzeichnete, dass nicht alle mitfahren können würden, gleichzeitig panisch versuchten, es noch in den Wagen zu schaffen. Ein uniformierter Stationswart kam herbeigeeilt und schob von Außen gegen den Rücken eines älteren Mannes, dessen Hinterteil von der Tür zusammengequetscht, Zentimeter um Zentimeter darin verschwand und der Zug nach einer weiteren Unendlichkeit schließlich weiterfahren konnte. Fuyu hatte es nun in den mittleren Teil des Eingangsbereichs verschlagen, wo es keine Möglichkeit gab sich festzuhalten. Beim Anfahren des Zuges schwappten alle ohne Kontrolle nach hinten, in einer Kurve nach links oder rechts, bei einer Bremsung nach vorne, jedes Mal wie der Inhalt eines Sandwiches von allen Seiten eng umschlossen. Unangenehmerweise war Fuyus Handtasche zwischen zwei Männer geraten und ihr Arm nun wie in einer Affenfalle gefangen. Das Blut begann sich zu stauen. `Nie wieder`, dachte sie, `nie wieder in den 7:56er. ` und schloss die Augen. Als der Zug wegen einer Ampel bremsen musste, kam es zu einem kleinen Tumult, den sie nutzte, um ihren Arm und ihre Handtasche wieder an sich zu bringen.
Als sie endlich am ersehnten Meguro-Bahnhof einfuhren, stiegen zwar wie gewohnt viele aus. Da der Zug diesmal jedoch an seine absolute Füllgrenze gestoßen war, blieb er trotzdem noch so voll, dass es keine Chance gab, in den Gangbereich vorzudringen. Dies blieb Fuyu noch bis Tameike-Sanno verwehrt und einen Sitzplatz konnte sie dann erst in Suidobashi, eine Station vor Korakuen ergattern.
Völlig entnervt vom Zugfahren, entschied sie sich, nicht mehr umzusteigen, sondern den restlichen Weg zur Uni-Bibliothek zu Fuß zurückzulegen. Im Regen stapfte sie den Hang die Kasuga-Dori hinauf und lief 15 Minuten immer geradeaus an der großen Straße entlang, artig mit allen anderen an jeder Fußgängerampel wartend, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Etwa 200 Meter nach der großen Kreuzung an der Hongosanchome Oedo Station bog sie dann Richtung Uni-Kampus ab.
Wenig später saß Fuyu endlich in einem der klimatisierten Lesesäle. Es war ein besonderes Gefühl, wenn man es nach einer solchen Anreise endlich geschafft hatte. Der Stress fiel sogleich von ihr ab, sie befreite sich von ihrem Regenschirm, den sie am Eingang in den dafür vorgesehenen Ständern einschloss und sie schlüpfte aus der klammen Jacke. Als sie einen angenehmen Sitzplatz gefunden hatte, breitete sie ihre Utensilien vor sich aus: Dürrs Schubert Handbuch in ungekürzter Sonderausgabe, das ‚Notenheft zu Opus 89 ‚Winterreise‘ für tiefe Stimmen‘ sowie ein hauchdünnes, silbernes Airbook, in das sie ihre weißen Kopfhörer einstöpselte und gleich aufsetzte. Entmutigt von den erdrückenden 675 Seiten in kleinem Druckfont blätterte Sie zunächst eine Zeitlang lustlos im Schubert Handbuch, bis sie sich schließlich dazu aufraffen konnte, das eigentliche Thema ihres aktuellen Seminars ‚Die Winterreise‘ nachzuschlagen. Es gab in ihrer Gruppe nur noch einen weiteren Studenten, der der deutschen Sprache mächtig war und diese Quelle benutzen konnte, was beim Schreiben dieses Papers einen unschätzbaren Vorteil darstellte. Als sie das richtige Kapitel gefunden hatte, stach ihr gleich die Überschrift ‚Einsamkeit‘ ins Auge. ‚Das passt ja!‘ grummelte sie in sich hinein. Sie suchte das Lied ‚Einsamkeit‘ auf YouTube und schlug daneben auch noch das ‚Notenheft zu Opus 89 ‚Winterreise‘ für tiefe Stimmen‘ auf, um Text und Notensatz darin mitzulesen. Dann drückte sie ‚Play‘. Das langsame Lied erklang in traurig schreitendem Rhythmus. Ein stimmgewaltiger Interpret namens Jonas Kaufmann sang quälend langsam, mal  weinerlich lamentierend, mal lautstark anklagend davon, wie er einsam durch eine von fröhlichen Menschen geprägte Umgebung wanderte und sich dabei wie ausgestoßen fühlte. Sie stellte sich einen orientierungslosen Mann in einer fremden Stadt vor, der nicht wusste wohin. Leise sang sie die Textzeile von den Doors vor sich hin: ‚Faces look ugly, when you’re alone.‘, Liedthemen blieben über die Jahrhunderte unverändert. Im Gegensatz zu Schubert hatten Jim Morrison die Koteletten gut gestanden. Die Klavierbegleitung war monoton und ungemein knapp, sie bestand überwiegend aus Zweiklängen, die abwechslungsweise träge auf der linken und auf der rechten Hand in regelmäßigen Achtelschlägen gespielt wurden: bumm-bumm, ding-ding, bumm-bumm, ding-ding, bumm-ding, bumm-ding, bu-hum-ding-ding. Im weiteren Verlauf entwickelte sich die anfangs ruhig schreitende Musik zu einer Aufreihung dramatischer Gefühlsausbrüche, die Klavierbegleitung wechselte zwischen dramatischem Tremolo und Sechzehntel-Triolen, laut, leise, laut, leise und auch die Gesangsstimme schwoll auf und resignierend wieder ab und wieder auf und wieder ab. Und vom zwischenzeitlich überraschend und vielversprechend erreichten C-Dur wieder in das ursprüngliche h-Moll des Trauermarsches zurück. Fuyu drückte auf Pause und konnte sich nicht richtig entscheiden, was sie von dieser eigenartigen Musik halten sollte. Sie spielte das kurze, nicht einmal dreiminütige Lied noch einmal von vorn. Wie manch anderer Mensch mit depressivem Charakter, neigte sie zu einer gewissen ich-Bezogenheit und so sann sie vor allem darüber nach, ob dieses Stück etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun hatte. Zwar fühlte sie sich selbst ebenso oft einsam und unverstanden, aber ihr missfiel die selbstmitleidige Art, in welcher der Protagonist daherkam und so wehrte sie sich im Innern gegen ihren aufkommenden Verdacht, dass diese Lieder etwas mit ihr persönlich zu tun haben könnten…
 
 

Die Post

 
‚Von der Straße her ein Posthorn klingt, was hat es,
 dass es so hoch aufspringt, mein Herz?‘

Zufrieden, dass sie die drei Krähen verscheucht hatte, war Ryoko die Straße hinuntergelaufen, die etwas trist aussah, da die Bäume vom Winter noch komplett kahl waren. Im Herbst verfärbten sich die Blätter so gleichmäßig, dass der ganze Ort in ein unwirklich anmutendes kräftiges Gelb getaucht wurde und dann fielen sie zu Millionen ab. Es bedurfte jedes Jahr einer erheblichen Anstrengung, das ganze Laub zu entsorgen. Die Anwohner waren zum Kehren der Gehwege verpflichtet und eigens dafür angeschaffte Kehrmaschinen durchstreiften dann mehrmals die Woche die Straßen. So war Denenchofusanchome zu jeder Jahreszeit von seinen schönen Ginko Alleen geprägt, mit hübschen Einfamilienhäusern, gepflegten Gärten. Im Winter jedoch waren die Bäume kahl, die Himmel grau und mit dem ständigen Krähengeschrei bedrückte das alles Ryokos ohnehin angeschlagene Laune. Nicht aber heute. Heute lief sie beschwingt den Hügel hinunter, nicht einmal die nervigen Krähen hatten daran etwas ändern können. 
Sie kam durch das beeindruckende Villenviertel mit seinen riesigen Hecken und Garagentoren, weißen und schwarzen Luxuslimousinen und Sportwagen. Das ‚japanische Beverly Hills‘ wurde Denenchofu manchmal genannt, was nicht weit hergeholt war, vor allem wenn man das benachbarte Jiyugaoka und seine weitläufige einzigartige Shopping-Fußgängerzone mit einbezog. Ryoko ging dort oft direkt zu Fuß hin, an der Bahnlinie entlang war es lediglich ein kurzer Spazierweg von etwa 20 Minuten bis zum Apartment ihrer Tochter, die dort lebte. Es ging bergab bis zum Omnibusbahnhof, danach kam eine leichte Steigung, dann kamen die Treppen zu der blauen Fußgängerbrücke, die über die breite Kampachi-Dori führte, welche Denenchofu und Jiyugaoka von einander trennte.
Im Ortskern gab es einen kleinen, parkartig bepflanzten Kreisverkehr mit Karpfenteich, auf dem das berühmte, niedliche alte Bahnhofshäuschen stand, vor dem an klaren Sommertagen die Teilnehmer von Malkursen mit ihren Staffeleien standen. Auf der Rückseite des alten Bahnhofs führte eine breite Treppe hinunter zum neuen Bahnhof und seinem Vorplatz mit einem Geschäft der französischen Boulangerkette `Maison Kaiser` gleich neben dem stets gefüllten Starbucks Café. An den direkt angrenzenden Straßen gab es eine Reihe kleiner, putzig ausgestatteter Läden, wo man einen Apfel für horrende 1000, oder eine Orchidee für gar 10 000 Yen erwerben konnte. Am Kreisel palaverten einige ausländische Mütter, die wohl ihre Kinder gerade bei einem der zahlreichen Schulbusse abgeliefert hatten, die hier morgens und nachmittags verkehrten. Es gab eine nicht unerhebliche Expat-Community, insbesondere hatten sich hier aufgrund der günstigen Lage zwischen Tokyo und Yokohama, wo sich die deutschen Schule befand, eine größere Anzahl deutscher, österreichischer und schweizerischer Familien angesiedelt. Und natürlich eine Vielzahl sonstiger wohlhabende Japaner und Celebrities, die dem Ruf eines japanischen Komikers gefolgt waren, der vor Jahren das Bonmot geprägt hatte, das höchste Ziel im Leben sei ein Haus in Denenchofu zu besitzen. 
Auch Ryokos Tochter Fuyu hatte die deutsche Schule besucht, als eine der wenigen rein japanischen Schülerinnen. Ryokos Großvater war ein berühmter österreichischer Arzt gewesen, der um die Jahrhundertwende an der Universität Toyko die damals fortschrittliche deutsche Medizin gelehrt hatte. Er hatte eine Japanerin geheiratet und war bis zu seinem Tode hiergeblieben. Seitdem zelebrierte Ryokos Familie Generation für Generation ihr teilweise europäisches Erbe, auch Ryoko hatte als Kind deutsch lernen müssen.
Die deutschsprachige Community sprach gerne scherzhaft von `Deutschenchofu`, obwohl in Wirklichkeit die vielleicht fünfzig Familien über den Ort verteilt gar nicht so stark auffielen. Ryoko war in Kontakt mit den wenigen, die dauerhaft hier lebten. Meist Familien mit deutschen Vätern, die bei einem beruflichen Aufenthalt von einer Japanerin eingefangen worden waren. Deutsche Männer, wie eigentlich alles was aus Deutschland kam, waren äußerst begehrt in diesem Land. 
Ryoko war inzwischen vor dem Eki-Mae Jubinkyoku angekommen, einer Poststelle, keine hundert Meter vom alten Bahnhofshäuschen entfernt. Sie blieb eine ganze Weile davor stehen und konnte sich nicht dazu durchringen hineinzugehen. Unentschlossen entschied sie, erst einmal das Gebäude gegenüber aufzusuchen. Im Erdgeschoss gab es dort einen Laden mit exklusiver Kuchentheke, die sie kurz abscannte und sich schnell für einen ‚Napoleon‘ entschied, der hier bekanntermaßen hervorragend war. Dann begab sie sich in den ersten Stock, der ein feines Café beherbergte, dessen Ambiente jedem Wiener Kaffeehaus Ehre gemacht hätte. Sie setzte sich und bestellte den Napoleon sowie einen Café au Lait. Da sie zeitlebens durch ihre Familie mit Europa verbunden gewesen war, hätte sie beide Wörter korrekt aussprechen können, hätte dabei allerdings riskiert von der Bedienung nicht verstanden zu werden. Daher wählte sie die japanische Aussprache, die das ‚L‘ durch eine rollendes ‚R‘ ersetzte: ‚Naporeon to Kafeore onegai shimasu‘. Von ihrem Fensterplatz aus fiel ihr Blick auf das gegenüberliegende Postamt. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass es ihr einmal so schwer fallen würde, einen Brief zu verschicken. Aber mit diesem Brief war es aus zweierlei Gründen etwas Außergewöhnliches. Erstens hatte sie keinem davon erzählt und es fühlte sich daher wie etwas Verstohlenes und Verbotenes an. Zweitens stand der Inhalt des Schreibens im Gegensatz zu all ihren bisherigen Werten und Vorstellungen und würde vielleicht ihr Leben komplett verändern. Die Bedienung brachte das Getränk und das Gebäck, das wie immer bereits rein optisch ein Meisterwerk war. Ryoko blickte erneut durchs Fenster. Sie spielte im Kopf noch einmal die schlimmen Ereignisse des letzten Jahres durch. Die lebensbedrohliche Erkrankung ihrer Tochter, die Sorge um sie, die unzähligen erfolglosen Arztbesuche. Die Unfähigkeit ihres Mannes, mit der Situation umzugehen, seinen Rückzug von der Familie in die Firma und zu seiner unheimlichen Kollegin, mit der er womöglich auch noch ein Verhältnis hatte. Seine physische und emotionale Abwesenheit. Ganz zu schweigen von seiner Herzkrankheit. Ryoko sah sich manchmal geistig schon alleine auf der Welt, wenn ihr Gatte einen Infarkt haben und ihre Tochter Fuyu sich aus Verzweiflung… Sie konnte das nie zu Ende denken. Und so war sie schließlich vor der Auflösung ihrer bis daher heil geglaubten Welt, und des Endes all ihrer Lebensträume in eine bleierne Resignation verfallen, aus der sie sich, egal wie, befreien musste.
Als sie irgendwann wieder aus ihrer Trance erwachte, stellte Ryoko irritiert fest, dass sie Kaffee und Napoleon gedankenlos verzehrt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Sofort bemühte sie sich, ihre Geistesgegenwart wieder herzustellen. Sie war es ihr Leben lang gewohnt gewesen, stets fest im Sattel der Realität zu sitzen und ihr derzeitiger labiler Seelenzustand widerte sie an. Es musste etwas geschehen, das stand ihr nun wieder klar vor Augen! Und deshalb musste der Brief verschickt werden, auch wenn das eine Zäsur mit gewissen unkontrollierbaren Folgen nach sich ziehen würde. Fest entschlossen bezahlte sie nun die Rechnung und verließ das Etablissement. Sie überquerte die Straße und trat ohne weiteres Zögern in die Post ein. Als beugte sich die Vorsehung vor ihrer Entschlossenheit war kein einziger Kunde vor ihr, sie konnte direkt zum Schalter gehen und den Brief darauflegen. Halb geworfen hatte sie ihn in ihrem Eifer, die Postangestellte blickte sie ängstlich an und beeilte sich, die passende Frankierung darauf zu kleben. Minuten später war sie wieder auf der Straße, es war vollbracht. Den ganzen kurzen Heimweg lang zitterte sie vor Euphorie am ganzen Körper. 
Sie konnte nicht wissen, dass, während sie versuchte mithilfe eines Briefes ihr Leben in den Griff zu bekommen, zur gleichen Zeit ein anderer Brief im Umlauf war, es endgültig zu zerstören.